
(Kai Littmann) – In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 fand in ganz Deutschland die Reichspogromnacht statt, von den Nazis organisierte, gelenkte und durchgeführte Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland. Mehr als 1400 Synagogen und andere jüdische Gemeinderäume wurden niedergebrannt, Geschäfte zerstört und geplündert, 400 jüdische Mitbürger wurden ermordet und ab diesem Zeitpunkt begannen die massenhaften Deportationen der jüdischen Bevölkerung in die Vernichtungslager. In dieser Nacht perfektionierte die deutsche Bevölkerung auch das kollektive Wegschauen. Die Deutschen waren nicht über Nacht alle zu blutrünstigen Bestien geworden, sondern schauten peinlich betreten in die andere Richtung und ermöglichten den Nazis so, ihre Verbrechen zu begehen.
Niemand konnte ab diesem Zeitpunkt mehr sagen, er habe nichts gewusst. Ein lange zuvor eingeleiteter Prozess kam zu seinem ersten Höhepunkt, der diesem Prozess auch eine Dynamik gab, die ihn auf die nächste Stufe brachte. In dieser Nacht testen die Nazis, wie weit sie gehen konnten. Ob sie die Bevölkerung bereits weit genug im Griff hätte, dass diese zusah, wie eine ganze Bevölkerungsgruppe entrechtet, drangsaliert und schließlich ermordet wurde. Und die Menschen sahen weg. Zuckten vermutlich mit den Schultern, dachten „was kann ich als Einzelner schon dagegen machen?“ und gingen am Morgen zum Bäcker, kauften Brötchen und vermieden das Thema.
Heute, 75 Jahre später, lebt kaum noch einer der Täter und es geht auch nicht mehr darum, eine kollektive Selbstgeißelung durchzuführen und uns dafür zu schämen, dass wir Mitglieder des Volks der Täter sind. Und dennoch ist das, was wir so sperrig mit „Gedächtnisarbeit“ oder „Erinnerungsarbeit“ bezeichnen, heute wichtiger als je zuvor. Nicht, um mit Schuld um sich zu werfen, mit der ohnehin niemand mehr etwas anfangen kann, sondern um die Mechanismen zu verstehen, die zu solchen Katastrophen führen.
Es geht nicht mehr darum, Deutschland für Vergangenes mit Schuld zu belegen. Viele unserer Vorfahren in allen europäischen Ländern haben Schuld auf sich geladen (der Begriff „Pogrom“ stammt übrigens aus dem Russischen und bezeichnete im 19. Jahrhundert gewaltsame Übergriffe auf jüdische Gemeinden) – heute geht es aber darum, über das Erinnern an dieses Pogrom zu verstehen, dass wir wieder einmal gefordert sind aufmerksam zu sein und uns gut überlegen müssen, welche Positionen wir beziehen oder ob wir wieder einmal einfach nur wegsehen wollen.
Totalitäre Systeme kommen nur in seltenen Fällen gewaltsam an die Macht, sondern entwickeln sich in den Händen derjenigen, denen man diese Macht im falschen Glauben anvertraut hatte, sie würden verantwortungsbewusst und zum Wohle aller damit umgehen. Doch was tut man, wenn diejenigen, denen man die Macht übertragen hat, diese zum Nachteil der Menschen missbrauchen?
Die Erinnerung an die Opfer der Reichspogromnacht ist eine Aufforderung, mit dafür zu sorgen, dass sich derartiges nicht mehr wiederholen kann und sich dagegen zu wehren, wenn wieder einmal die Vorbereitungen für die Gleichschaltung der Menschen getroffen werden. Die Erinnerung an die Opfer der Reichspogromnacht ist eine Mahnung, nicht nur den Kopf zu schütteln, weil unsere Regierungen diejenigen verfolgen, die unwidersprochen die Wahrheit sagen und die Gesellschaft darüber aufklären, was überhaupt passiert, sondern laut und deutlich „Nein!“ zu sagen.
Man stelle sich nur einen Moment lang vor, die Nazis hätten bereits über die technologischen Mittel der NSA verfügt. Oder ein Josip Stalin. Oder ein Generalissimo Franco. Oder die Juntas in Chile, Griechenland oder Nicaragua. Und so weiter und so weiter. Alleine schon die Statistik will, dass irgendwann einmal wieder jemand an die Macht kommt, der keine demokratischen Ziele, sondern den Aufbau eines neuen totalitären Systems beabsichtigt. Und dabei ganz legal die Kontrolle über die IT-Systeme der NSA und anderer „Dienste“ erlangt.
Unsere Generation, die sich oft in der Beurteilung gefällt, dass sie im III. Reich ganz anders, heldenhaft und sicher im Widerstand gehandelt hätte, sollte sich jetzt nicht genau so verhalten wie unsere Vor-Vorfahren. Wir dürfen nicht wegschauen und so tun, als ginge uns das Schicksal eines Edward Snowden nichts an. Wir dürfen nicht mit den Schultern zucken und zulassen, dass unsere Regierungen Edward Snowden weiter bekämpfen.
Edward Snowden ist zwar kein ganzes Volks, steht aber der gesamten Weltbevölkerung näher als alle Regierungen zusammen. Denn dank seiner Arbeit können wir vielleicht noch verhindern, dass irgendwann diese Systeme genutzt werden, um schnell, geräuschlos und mit technologischer Präzision eine andere Bevölkerungsgruppe ausgelöscht wird. Zum Beispiel die Roms. Oder Asylbewerber. Oder Fußballfans. Erinnern wir uns also an die Reichspogromnacht, damit so etwas nie passiert.